Zwischen Karrierechancen und Familienpflichten
Frauen in Indien auf dem Weg zur Gleichberechtigung
Interview mit Antje Christ, Dokumentarfilmerin, Christ Media GmbH und im Auftrag der EinDollarBrille verantwortlich für Globale Netzwerkarbeit und Landeskoordination Indien
In Indien, dem bevölkerungsreichsten Land der Welt, hat die Hindugöttin „Saraswati“ einen hohen Stellenwert. Sie steht unter anderem für das Lernen, die Wissenschaft und die Weisheit. Also ein weibliches Prinzip.
Immer mehr Mädchen und junge Frauen besuchen mittlerweile in Indien das College und machen Karriere. In den ländlichen Gebieten, in denen unsere Partnerorganisation Care Netram tätig ist, ist ein festes Einkommen für Frauen allerdings noch immer die Ausnahme. Sie werden jung verheiratet und kehren dann in ihre traditionellen Rollen als Hausfrau und Mutter zurück. Dass es aber auch etwas anders geht, zeigt Care Netram in den indischen Bundesstaaten Odisha und Jharkhand im Osten des Landes.
Antje Christ betreut das indische Partnerprogramm Care Netram seit seinem Start im Jahr 2017. Sie arbeitet eng mit ihren indischen Kolleginnen und Kollegen zusammen und weiß, dass es bei Care Netram um weit mehr geht, als nur um die Versorgung von Menschen mit Brillen.
Care Netram eröffnet insbesondere jungen indischen Frauen ganz neue Arbeitsmöglichkeiten und nimmt damit eine wegweisende Rolle ein.
In vielen Programmländern der EinDollarBrille ist der Frauenanteil unter den Mitarbeitenden recht hoch, auch in Indien. Was bedeutet es für junge Frauen bei Care Netram angestellt zu sein?
Antje Christ: Ja, auch bei unserem indischen Programmpartner, Care Netram, arbeiten überdurchschnittlich viele Frauen, nämlich 65 Prozent. Und weil das Programm so groß ist, sind das zahlenmäßig 70 junge Frauen zwischen 18 und 24 Jahren, die alle fest angestellt sind und ein monatliches Gehalt bekommen. So etwas ist gerade in der ärmeren Region im Osten Indiens immer noch eine Ausnahme. Die meisten Mitarbeiterinnen verdienen sogar mehr als ihre Eltern, denn viele Väter sind Reisbauern, die Mütter Hausfrauen und je nachdem wie die Ernte ausfällt, hat eine 5-köpfige Familie nicht mehr als 60 Euro pro Monat zur Verfügung. Das reicht nicht aus, um zu überleben. Nahezu alle Mitarbeitenden von Care Netram unterstützen daher ihre Familien mit dem Geld, das sie verdienen. Dass dieses Geld nun oft von den Töchtern und nicht, wie die Tradition es eigentlich vorsieht, von den Söhnen kommt, ist ungewöhnlich und für die Eltern gewöhnungsbedürftig. Die Frauen selbst aber sind stolz, ihrer Familie helfen zu können.
Welche Aufstiegschance haben Frauen bei Care Netram?
Antje Christ: Im Prinzip haben sie die gleichen Aufstiegschancen wie die Männer. Care Netram unterstützt sie, wo immer es möglichst ist. Es ist schön zu sehen, dass viele Frauen, die schon 2017 mit uns angefangen haben, immer noch dabei sind und mittlerweile führende Rollen einnehmen. Sie leiten zum Beispiel Teams oder organisieren ganze Distrikte, in denen die Augencamps durchgeführt werden.
Und was passiert, wenn die Frauen heiraten?
Antje Christ: Hochzeit ist ein Riesenthema in Indien. Sie kostet ein Vermögen, das in den meisten Fällen allein die Eltern der Braut aufbringen müssen. Der Druck, Mädchen „gut zu verheiraten“ ist daher enorm hoch. In der Gegend, in der unser Programmpartner arbeitet, sind arrangierte Ehen die Regel, d.h. die Eltern suchen den Partner aus. Wenn die Tochter nicht mit spätestens 23 oder 24 Jahren verheiratet ist, gilt sie schnell als „unvermittelbar“ und ist stigmatisiert. Nach der Hochzeit müssen die jungen Frauen in das Haus ihrer Schwiegereltern ziehen und dort meist im Haushalt helfen, außerdem steht dann die Familienplanung an. Daher muss Care Netram leider damit leben, dass die meisten jungen Frauen zunächst aufhören zu arbeiten, wenn sie heiraten. Aber es gab auch schon Ausnahmen.
Ist es nicht frustrierend, all die gut ausgebildeten Frauen wieder gehen zu sehen?
Antje Christ: Ja, manchmal ist es bedauerlich, zumal bei Care Netram Frauen die gleichen Aufstiegschancen wie Männer haben und bis ins gehobene Management vordringen könnten. Aber unser Programm setzt ja genau da etwas in Gang, und es braucht Zeit, bis solche Strukturen aufweichen. Wichtig finde ich, dass die Frauen schon einmal erfahren haben, dass sie selbst für sich sorgen und ihren eigenen Lebensunterhalt verdienen können. Wir beobachten, dass sie selbstständiger und selbstbewusster werden. Durch das regelmäßige Einkommen erhalten sie auch im sozialen Kontext und innerhalb ihrer Familie einen anderen Status. Sie müssen zum Beispiel nicht mehr jeden Ehemann akzeptieren, den die Eltern vorschlagen, denn sie sind ja unabhängiger. Wenn sie kündigen, ist das zwar schade, aber Care Netram hat die Frauen in jedem Fall gestärkt. Sie sind außerdem alle noch jung und können auch später noch Karriere machen. Und das wissen sie.
Seit meiner Ausbildung bei der EinDollarBrille bin ich diejenige, die den Lebensunterhalt meiner Familie sichert.